Der "Open Ocean Exploration" Thread auf Twitter
Die Analyse von Threads auf Twitter, die gefährlichen Unfug verbreiten (Teil 1).
Kurz nachdem ich in meinen Möglichkeiten auf Twitter nicht mehr eingeschränkt war, wurde ich mal wieder auf diesen Thread aufmerksam gemacht:
Ich denke, es wird Zeit, den mal Tweet für Tweet auseinander zu nehmen, um aufzuzeigen, welcher Unfug hier verbreitet bzw. wie armselig hier argumentiert wird.
Nein, das biologische Geschlecht wird natürlich nicht von den Chromosomen “verursacht” oder durch sie hervorgebracht. Chromosomen sind die Strukturen, die sich durch die Unterbringung der genetischen Information im Zellkern ergeben. Vereinfacht gesagt beruht jede Struktur und jeder biochemische Vorgang in einer Zelle letztlich auf einer genetischen Information, kodiert in der DNA einer Zelle, und wie diese DNA in einer individuellen Zellen “zum Ausdruck” gebracht wird. Die genetische Information ist dabei sehr umfänglich. Würde man die gesamte DNA als Faden aneinander heften, läge die Länge dieses Fadens bei rund 2 Metern (plus/minus einen halben bis einen Meter). Die DNA muss also hochgradig aufgerollt sein, damit sie in den Zellkern einer Zelle hineinpasst. Sie wird daher in mehreren Fäden aufgerollt, an Proteine (Histone) gebunden, gefaltet, erneut aufgerollt usw. Die dabei entstehenden Strukturen sind die Chromosomen. Die an sich haben mit Geschlecht also nichts zu tun.
Eine frühe Beobachtung ist aber durchaus, dass die Männchen (wir werden noch dazu kommen, wie man die definiert) in der Regel über ein XY-Paar an Gonosomen (sogenannten Geschlechtschromosomen) verfügen, die Weibchen über ein XX-Paar. Dieser Karyotyp “bestimmt” das Geschlecht nicht, aber er ist in den überwiegenden Mehrheit der Fälle ein einfaches Merkmal, anhand dessen das Geschlecht bestimmt werden kann (wenn z.B. anderer Merkmale nicht beobachtet werden können; wir können z.B. aus Blutproben, Speichelproben, Haaren oder auch Knochenfragmenten, das Geschlecht anhand des Karyotyps zumeist sicher bestimmen). Zumeist sicher, da es auch Abweichungen gibt. Die häufigsten Abweichungen bei den Gonosomen sind das Turner-Syndrom (XO, es entwickeln sich Frauen; Häufigkeit: 1:2500 Neugeborene) und das Klinefelter-Syndrom (XXY, es entwickeln sich Männer; Häufigkeit: 1:5000 Neugeborene). Beim De la Chapelle-Syndrom ist der Karyotyp XX, es entwickelt sich aber ein Mann (Häufigkeit bei etwa 1-9:100.000 Neugeborenen). Beim Swyer-Syndrom ist der Karyotyp XY, es entwickelt sich aber eine infertile Frau (genaue Häufigkeit unbekannt; möglicherweise irgendwo zwischen 1:20.000 bis 1:80.000 Neugeborenen). Das sind also äußerst seltene Abweichungen von der normaltypischen Entwicklung. Diese stellen nicht die allgemeine Beobachtung in Frage, dass Männer üblicherweise XY und Frauen üblicherweise einen XX Karyotyp haben.
Über das “Sex determining Region Y gene” kann man in dem Review “SRY and Sex Determination in Mammals” von Goodfellow & Lovell-Badge aus dem Jahr 1993 hier nachlesen. Es handelt sich um Gen, dessen Produkt eine Steuerungsaufgabe übernimmt, so dass andere Gene “zum Ausdruck” kommen. Das ist natürlich nicht “das Geschlecht”, sondern lediglich der Mechanismus beim Menschen, wie es zur Entwicklung des Geschlechts in einem Individuum kommt.
Wie bereits Goodfellow & Lovell-Badge beschreiben, kann es auf unterschiedliche Arten und Weisen dazu kommen, dass SRY in seiner normalen Funktion gestört wird. Dann entstehen, wie oben bereits beschrieben, Weibchen mit XY-Karyotyp.
Das ist insofern Unfug, als dass man nicht “chromosomal männlich” ist. Ob man ein Männchen oder ein Weibchen ist, ergibt sich aus einem anderen Grund (zu dem wir noch kommen werden). Wie oben beschrieben, gibt es ein für Männchen und Weibchen jeweils typischen Karyotyp - aber auch Abweichungen davon.
Hier wird sprachlich unsauber geschrieben. Hormone spielen natürlich eine sehr wichtige Rolle bei der Entwicklung des Körpers und damit der Entwicklung der Anlagen für die Geschlechtsorgane. Allerdings sind auch Hormone nicht das “Geschlecht”.
Das ist nun absoluter Unfug. Natürlich gibt es Erwartungswerte für die Konzentration der verschiedenen Hormone im Blut von Menschen. Bei Testosteron liegen die Werte von Männern, selbst wenn diese für Männer äußerst niedrige Werte haben, zumeist immer noch sehr deutlich über den Werten der Frauen. Niedrige Testosteronwerte machen aber aus einem Mann nicht plötzlich eine Frau - oder auch nur einen “geringeren Mann”. Genauso wenig wird eine Frau, die sich Testosteron verabreicht (man denke z.B. an die russischen Sportlerinnen, die früher allesamt stark gespritzt wurden), nicht plötzlich ein Mann. Sie baut zwar mehr Muskeln auf und hat einen anderen Körperbau und eine andere Fettverteilung am Körper, ein Mann ist sie aber nicht. Unsere Hormone sind nicht unser “Geschlecht”, sondern lediglich, die Stoffe, mit denen die Entwicklung des Körpers und die Aufrechterhaltung seiner Funktionen gesteuert werden.
Es gibt z.B. die partielle oder komplette Androgenresistenz, oder vielmehr das Androgeninsensitivitätssyndrom. Diese Störung betrifft Männer, zur Häufigkeit des Auftretens ist auf der Webseite OrphaNet nichts angegeben, was ein Indiz dafür ist, dass es sehr selten ist.
Das Androgen-Insensitivitäts-Syndrom (AIS) ist eine Störung der Geschlechtsentwicklung von Männern mit 46,XY-Karyotyp. Charakteristisch sind äußere weibliche Genitalien, intermediäres Genitale oder unterschiedliche Defekte der Virilisierung. Die Individuen sprechen nicht oder nur teilweise auf alterstypische Androgenspiegel an. Zwei klinische Untergruppen des AIS werden unterschieden, das vollständige AIS (CAIS) und das partielle AIS (PAIS).
Die Schlussfolgerung im Twitter-Thread ist gefährlicher Unfug:
Denn bislang hat Open Ocean Exploration noch gar nichts darüber gesagt, wie “Geschlecht” eigentlich in der Biologie definiert ist - was es konkret ist.
Aber es wird noch dümmer.
Zum “Geschlecht” hat er oder sie immer noch nichts gesagt. Der Thread erklärt dem Leser tatsächlich wenig bis - in der Hauptsache - gar nichts. Das finde ich schon ziemlich beschämend.
Daher zur Sache: Leben kann sich auf ganz unterschiedliche Arten und Weisen vermehren. Wir alle kennen im Grunde das Klonen (wenn wir z.B. einen Spross oder Ast von einem Busch oder Baum abschneiden, diesen zunächst in Wasser stecken, bis sich an der Schnittstelle neue Wurzeln bilden, und ihn dann in der Erde neu einpflanzen; oder auch Blattläuse, die sich ebenfalls als Klone vermehren können, in dem die Weibchen, ohne befruchtet zu sein, einfach neue Weibchen hervorbringen), oder auch, dass sich Mikroorganismen durch einfache Zellteilung vermehren. Daneben gibt es aber auch die geschlechtliche Fortpflanzung, bei der zunächst Keimzellen gebildet werden (hier wird der Chromosomensatz, über den eine Zelle verfügt, halbiert - diesen Vorgang nennt man Meiose). Diese Keimzellen verschmelzen miteinander, sodass die so entstehende Zygote wiederum einen vollen (doppelten) Chromosomensatz hat. Es hat sich in der Evolution so entwickelt, dass zumeist unterschiedlich große Keimzellen bilden. Das nennt man Anisogamie. Zumeist, weil es durchaus auch gleichgroße Keimzellen gibt, zum Beispiel bei Algen. Bei den Säugetieren, zu denen der Mensch gehört, herrscht die Anisogamie vor. Zu deren Entwicklung gibt es interessante Erklärungsansätze.
Wo kommen diese beiden Keimzellen aber her? Sie werden von erwachsenen, fruchtbaren Individuen der Arten hervorgebracht, die sich im Laufe der Evolution in ihre spezielle Rolle bei der Fortpflanzung hineinentwickelt haben. Da sie unterschiedlich große Keimzellen hervorbringen, und zudem die Zygote zu Beginn nicht allein lebensfähig ist sondern zunächst “ausgetragen” werden muss, haben sich zwei unterschiedliche Körpertypen entwickelt - die wir Weibchen und Männchen nennen. Die Weibchen stellen dabei definitionsgemäß die großen Keimzellen bereit, die Männchen die kleinen. Zudem tragen die Weibchen die sich entwickelnden Embryonen aus, gebären schließlich den Nachwuchs und säugen ihn. Dazu haben sie einen entsprechend entwickelten Körper, der über Organe verfügt, die diese Prozesse ermöglichen.
Weibchen und Männchen sind also zwei unterschiedliche phänotypische Kategorien in einer anisogam sich fortpflanzenden Spezies. Als Phänotyp bezeichnen wir die Gesamtheit der Merkmale eines Organismus. Ein XX-Karyotyp ist z.B. ein solches Merkmal, genau wie das Vorhandensein primärer und sekundärer Geschlechtsmerkmale. Diese sind aber auch nur Merkmale, nicht das Geschlecht an sich. Das Geschlecht an sich ist die Rolle bei der Fortpflanzung - letztlich kleine Gameten, oder große Gameten.
Kurz zusammengefasst: es gibt beim Menschen genau zwei Geschlechter, Weibchen und Männchen. Frauen und Männer. Definiert ist das Geschlecht über die Rolle bei der Fortpflanzung, insbesondere die Bereitstellung entweder großer (Weibchen) oder kleiner (Männchen) Gameten. Wer etwas anderes sagt, oder wie Open Ocean Exploration viele Worte verliert, aber nichts erklärt, ist entweder ungebildet, dumm, oder führt Böses im Schilde.