Gender ohne Sex. Geschichte, Funktion und Funktionswandel des Begriffs „Gender“. Eine Analyse
„Gender kann nicht mit gender erklärt werden. Es lebt von der Kraft, mit der es sich vom sex abstößt.“ (S. 928)
Ich versuche seit geraumer Zeit nachzuvollziehen, wie wir in diesen Schlamassel rund um die „Genderidentitäten“ geraten sind. Daher habe ich versucht, nachzuvollziehen, wo dieser Begriff herkommt, wie er mal definiert war, und wie er sich zwischenzeitlich gewandelt hat und wie er heute missbraucht wird. Dabei bin ich auf den Artikel „Gender ohne Sex. Geschichte, Funktion und Funktionswandel des begriffs [sic] „Gender““ von Reimut Reiche gestoßen, der 1997 in der Zeitschrift Psyche erschienen ist (51(9-10), 926-957). Reiche ist ausweislich des Wikipedia-Artikels über ihn Soziologe, Psychoanalytiker und Sexualforscher. Ich finde die Analyse und Argumentation von Reiche sehr tiefsinnig und hellsichtig. Daher möchte ich hier reichlich aus dem Artikel zitieren und meine Gedanken dazu formulieren. Den Artikel gibt es zu bestellen. Die Zitate sind in der im Artikel verwendeten Schreibweise gehalten, inklusive der Kursivsetzungen.
Der Ursprung von „Gender“
Reiche beschreibt die Herkunft und ursprüngliche Bedeutung des Begriffs wie folgt:
„Gender identity ist ebensowenig wie gender ein genuin psychoanalytischer Begriff. Mehr noch, er war bis zum Jahr 1955 auch im Englischen ganz ungebräuchlich, ja fast vergessen. Der verhaltenswissenschaftlich orientierte Sexologe John Money (1955) hat ihn – in einer echten semantischen Notlage – eingeführt, als er darstellen wollte, daß und wie Intersexes, vor allem Hermaphroditen mit unklaren und widersprüchlichen Merkmalen des Körpergeschlechts (sex) dennoch eine eindeutige Geschlechtsidentität (gender) ausbilden können, die „im Widerspruch“ zum Körpergeschlecht steht.“ (S. 928f)
Money ging es also um eine sehr spezielle Frage: Wie kann ein Mensch, der mit einer Variante der Geschlechtsentwicklung geboren wurde, und daher anatomisch ein Sonderfall ist, dennoch eine stabile Identifikation mit einem der beiden körperlichen Geschlechter erreichen? Bei etlichen Varianten der Geschlechtsentwicklung stellt sich die Frage gar nicht, da am Status als Mann oder Frau (wenn auch auf Grund der Abweichung von der normalen Entwicklung infertil) nicht gezweifelt werden muss. Bei anderen Varianten ist die Frage durchaus berechtigt und interessant, denn manche Varianten der Geschlechtsentwicklung stellen uns durchaus vor eine Herausforderung, wenn es um die Frage geht, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt.
Die Basis von “Gender” ist also ganz klar der “Sexus”.
Worum es Money im Konkreten ging zeigt sich in der späteren Formulierung seines Konzeptes als “G-I/R”, was für “Gender-Identität/Rolle” steht, „zwei Seiten einer Münze“ (S. 931). Es kommt Money demnach insbesondere auf das eigene Empfinden und das Ausleben dieses Empfindens im individuellen Verhalten an. Ich behaupte, dass dies ziemlich klischeehaft ist - was man auch heutzutage am Verhalten vieler “Trans*” und “queeren” Menschen beobachten kann.
Im weiteren Verlauf wurde der Begriff “Genderidentität” dann von Stoller aufgenommen und erweitert.
„Was mit und seit Stoller core gender identity genannt wird, ist die isomorphe Selbstidentifizierung mit dem eigenen biologischen Geschlecht (sex) – oder aber die Abweichung davon, im Extrem also anisomorphe Selbstidentifizierung mit dem anderen biologischen Geschlecht (Transsexualität). In der knappen und prägnanten Formulierung von Stoller (1968, S. 10): „Gender identity starts with the knowledge and awareness, whether conscious or unconscious, that one belongs to one sex and not the other…“ Gender beginnt also mit sex – nämlich mit der Selbstgewißheit einem der beiden Geschlechter (sexes), gleichgültig welchem, anzugehören.” (S. 930)
Die Basis von “Gender” ist also ganz klar weiterhin der “Sexus”.
Erweitert hat Stoller den Begriff in meinen Augen insofern, als das er „Gender“ jetzt herannimmt, um auch Transsexualität zu erklären. Transsexualität ist dann nämlich, wenn ein Mensch davon überzeugt ist, genau dem körperlichen Geschlecht anzugehören, zu dem er gerade real nicht gehört, und das obschon es hinsichtlich der Körperlichkeit keinerlei Zweifel oder Undeutlichkeiten gibt (wie wir anhand des Beispiels von Janka Kluge sehen können).
In der Psychoanalyse hat sich der Begriff laut Reiche dann schnell etabliert:
„Der Begriff hat dann nach 1968, nachdem ihn Robert Stoller in Sex and Gender für die Psychoanalyse adaptiert hatte, in der Stollerschen Version die psychoanalytische Bühne rasch erobert.“ (S. 929)
Der Begriffswandel
Dann knüpfte aber eine andere Entwicklung an. In den Worten von Reiche:
„Gender ist ein selten schönes Beispiel dafür, wie ein Begriff aus einer hochspezialisierten Wissenschaftssprache, in diesem Fall dem Schnittpunkt von Endokrinologie, Genetik und Psychoanalyse, heraustritt, einen Siegeszug durch die Geistes- und Sozialwissenschaften antritt und dort zu einer Hauptmetapher für Wissenschafspolitik [sic] (gender studies) und politische Bewegungen (gender movements) wird.“ (S. 928)
In den Sozialwissenschaften traf der Begriff „Gender“ nämlich auf die konstruktivistischen bzw. dekonstruktivistischen Strömungen, ausgehend von Frankreich und besonders wirkmächtig geworden in den USA:
„Seit etwa zwei Jahrzehnten haben innerhalb der Sozialwissenschaften die Strömungen, die sich selbst als konstruktivistisch – und in den amerikanischen Geisteswissenschaften als dekonstruktivistisch – bezeichnen, zunehmend an Attraktivität gewonnen. […] Diese Strömungen zufolge ist die gesamte Realität, inklusive der psychischen Realität, „konstruiert“ und nirgends auf objektive Fakten oder Dinge (Essentiale) rückführbar, die für sich den Status von objektiver Erkenntnis beanspruchen könnten.“ (S. 946)
Zu diesen Strömungen empfehle ich weiterhin das hervorragende Buch “Cynical Theories” von James Lindsay und Helen Pluckrose. In diesem Buch zitieren die beiden Autoren aus einschlägigen Werken wortwörtlich, so dass man sich ein sehr gutes Bild machen.
Wie oft erleben wir auf Twitter genau das: die Behauptung, Geschlecht sei ein „soziales Konstrukt“. Unterschiede zwischen Männern und Frauen seien „gesellschaftlich produziert“ und gar nicht real. Es gebe zum Beispiel auch in der körperlichen Leistungsfähigkeit zwischen Frauen und Männern keine Unterschiede, daher sei auch die Unterteilung zwischen Frauen und Männern zum Beispiel im Sport unnötig und diskriminierend.
Dies sah Reiche bereits vor 25 Jahren als problematisch an, was sich durch den gesamten Artikel hindurchzieht:
„Überall wo gender semantisch etabliert ist, darf von sex nur noch dann gesprochen werden, wenn auf die biologische oder anatomische Basis des Geschlechts Bezug genommen wird. Falls solche Bezogenheit überhaupt noch anerkannt wird.“ (S. 926)
„Der radikale geschlechtskonstruktivistische Diskurs unterläuft diese Enthüllung, indem er den Geschlechtsunterschied bewußt verneint und gerade diese Verneinung zu seinem eigenen Differenzschema erklärt, mit dem er sich von den anderen Wissenschaften unterscheidet.“ (S. 947)
„Die Botschaft des gender constructivism ist suggestiv gerade in ihrer Einfachheit: Es gibt keine natürlichen Geschlechtsunterschiede; alle Geschlechtsunterschiede sind gemacht. Die kritische Stoßrichtung, die Money und auch Stoller im Auge hatten, als sie den angloamerikanischen wissenschaftlichen Geschlechtsbegriff sex in „sex and gender“ auseinanderzogen, wird dadurch zugleich überboten und rekursiv vernichtet: Es gibt jetzt nämlich kein sex – sei es als „Körpergeschlecht“, sei es als Stammform von „sexuell“ – mehr, sondern nur noch „gender“ (sozial konstruiertes Geschlecht).“ (S. 947)
Beispielhaft zu der semantischen Verschiebung der Begriffe führt er aus:
„Nehmen wir zum Kontrast eine Arbeit von Kernberg aus dem Jahr 1995. Dort stoßen wir auf einen kompletten Austausch der Semantik. Der herkömmliche Terminus sex ist dort ganz und gar durch gender ersetzt, auch bei einfachen biologischen Konnotationen. Es wird vom „parent of the opposite gender“ gesprochen, wo eindeutig und schlicht der „gegengeschlechtliche Elternteil“ (1995, S. 33) gemeint ist. „The establishment of core gender identity“ wird sogar irreführenderweise gleichgesetzt mit einem „integrated concept of self that defines the individual’s identification with one or the other gender” (1995, S. 11). Irreführend, weil der „Kern“ der core gender identity nach inzwischen einheitlichem wissenschaftlichem Gebrauch gerade in der Selbstzuordnung besteht, „that one belongs to one sex and not the other“. (S. 928)
Dies kann man mittlerweile nahezu überall beobachten. In wissenschaftlichen Publikationen wird sehr häufig der Begriff „gender“ verwendet, obschon ganz offensichtlich „sex“ gemeint ist. Das verwischt die Unterscheidung dieser Begriffe noch mehr. Kein Wunder, dass wir ja auch beim Thema „Trans*“ gar nicht über „Transsexuelle“ reden, sondern über „Transgender“. Und auch kein Wunder, das behauptet wird, Homosexuelle seinen gar nicht homosexuell, sondern sozusagen „homogenderell“: sie stünden nicht auf den Körper (was eine transphobe Genitalpräferenz sei), sondern auf das Gender der anderen Person.
Aus psychoanalytischer Sicht formuliert Reiche, dass die Konzepte „gender identity“ und „core gender identity“ nicht sonderlich hilfreich seien.
„Ob wir mit dem Begriff der core gender identity operieren wollen oder nicht – wir müssen feststellen: in Analysen bleiben die Wurzeln der (core) gender identity im allgemeinen auch dann stumm, wenn diese Analysen bis zum Grund gehen oder, in der tiefen Sprache des deutschen Idealismus ausgedrückt, wenn diese Analysen zu sich selbst gekommen sind. Daran wird auch noch mal deutlich, daß es sich bei dem Konzept der core gender identity nicht um einen aus der Analyse heraus entwickelten, sondern um einen Grenz- und Differenzbegriff handelt.“ (S. 934)
Im Ergebnis kommt Reiche daher zu einem aus meiner Sicht vernichtenden Urteil:
„Unsere Zwischenbilanz lautet: core gender identity ist keine empirische Tatsache, sondern ein wissenschaftliches Konzept. Dieses Konzept besteht im Kern aus einer Metapher, nämlich „Kern“ (core). Somit haben wir das Bild, daß Geschlechtsidentität aus einem unveränderbaren Kern bestehe, vergleichbar dem „gewachsenen Fels“ bei Freud, und darüber liegenden, konfliktbedingten und der Veränderung zugänglichen Schichten.“ …“Wie an so vielen erfolgreichen Konzepten kann man auch an core gender identity beobachten, daß es mit wachsendem Gebrauch zunehmend nicht mehr als Konzept, sondern als Tatsache behauptet wird.“ (S. 932)
Die hinter dem Gender-Konstruktivismus lauernden Gefahren
Reiche sieht etliche Gefahren aufziehen, die wir in der realen Welt sehr manifest beobachten können. Denn der Begriff „Gender“ hat über den konstruktivistischen/dekonstruktivistischen Umweg in den Sozialwissenschaften die sozialen Bewegungen erreicht. Wir sehen das z.B. in den Äußerungen unseres „Queerbeauftragten“ oder bei vielen anderen „LGBTQIA+“ Aktivisten oder Verbänden.
„Vergleichbar Stellvertreter-Kriegen können auch soziale Bewegungen Stellvertreter-Charakter annehmen. So führen die gender movements, deren Zeuge wir seit einigen Jahren sind, nicht nur den Kampf um die Anerkennung als „sexuelle Minderheiten“, den sie manifest-politisch führen. Diese Bewegungen und die entsprechenden wissenschaftlichen Repräsentationen („gender studies“, „gender discourse“) sind gewiß auch darum so attraktiv, weil sie stellvertretend für die gesamte Kultur tiefe Verunsicherungen ansprechen, Lebensfragen formulieren und Antworten geben oder suggerieren.“ (S. 945)
„Auf dem Niveau des wissenschaftlichen Mediums wiederholt sich hier die offensive Verneinung, die wir täglich auf dem trivialen Niveau der talk shows beobachten können: Alle möglichen Menschen demonstrieren etwas oder bekennen sich öffentlich zu etwas, das sie als „sexuell nicht festgelegt“, als „Spielart“, als „extreme fashion“ oder sonstwie bezeichnen – und das früher als Perversion bezeichnet worden wäre, aber heute, jedenfalls im TV-Medium, nicht mehr so bezeichnet werden darf: öffentliches Bekenntnis zu sadomasochistischen Praktiken; Geschlechtsverkehr mit Schweinen, Hunden und Pferden; Werben für „non-profit-3-L-Clubs“ und dergleichen mehr. Bewußt und aggressiv wird verneint, daß das Angewiesensein auf solche sexuelle Erregung irgendetwas mit Beschämung oder gar Krankheit zu tun habe. Schämen muß sich dann nicht mehr der früher sogenannte Perverse, sondern der Zuschauer […].“ (S. 947f)
Wer kennt sie nicht, die ganzen „Celebrities“, die sich reihenweise als nicht-binär, trans nicht-binär, genderqueer oder sonst wie „outen“? Wer kennt sie nicht, die Videos von Männern, die in Kleidern auf Damentoiletten onanieren?
Was wir genauso im Schatten dieser Bewegungen nachvollziehen können ist, dass eine Entpathologisierung von eigentlich krankhaften Störungen stattfindet. Störungen darf man als solche nicht mehr benennen, da man sonst als „gruppenbezogen menschenfeindlich“, als rechts-konservativ oder schlimmstenfalls direkt als Nazi gilt. So Reiche:
„Wenn Freud 1905 ausarbeitete, warum die Homosexualität und die Perversionen keine angeborenen oder sonstwie zu erklärenden Degenerationen sind, sondern Triebschicksale, die mit der sog. Normalität eine Ergänzungsreihe bilden, dann war das gerade dadurch revolutionär, daß er die psychiatrische Semantik der Abirrungen formal beibehielt, sie jedoch inhaltlich dekonstruierte. Wenn wir 90 Jahre danach immer noch von Abirrungen, Störungen und Pathologien sprechen – nehmen wir, von außen betrachtet, plötzlich eine Rechtsaußenposition ein, denn inzwischen haben sogar die offiziellen psychiatrischen Diskurse, allen voran die Diskursführer DSM und ICD-10, die Homosexualität ersatzlos gestrichen und den früheren klassischen Einheitsbegriff der Perversion komplett aufgelöst.“ (S. 944)
„Der genderkonstruktivistische Fetischist präsentiert seinen Fetisch als einen ohne Schuld gefundenen, nämlich als eines von many genders, als seine Identiät [sic], und verlangt soziale Anerkennung.“ (S. 954)
Besonders wirkmächtig ist das Ganze dadurch, dass sich einzelne Gruppen als unterdrückte oder marginalisierte Minderheiten definieren und sich damit in das Zentrum des Diskurses stellen und versuchen, Sonderrechten zu beanspruchen, oder eben auch die Entpathologisierung. Reiche:
„Aus vielerlei Gründen mißtrauen wir sowohl dem Begriff der Akzeptanz als auch dem der Minderheit. Klinisch werden wir auf besondere Weise intim berührt von dem Anderen am Anderen, also auch von den Perversionen und der Homosexualität. Und täglich sind wir ebenso mit dem modernen Opportunismus und der Scheinhaftigkeit in der „Akzeptanz von…“ konfrontiert. Darum verfolgen wir die Bezeichnung „Minderheit“ dort mit Mißtrauen, wo die Selbsternennung zur „Minderheit“ dazu dient, ein sexuelles Verhalten der Analyse und damit der eventuellen Bezeichnung als psychopathologisch zu entziehen. Dieser Prozeß der Selbsternennung zur Minderheit ist historisch besonders eindrucksvoll an der Transsexualität zu beobachten. Vor 30 Jahren noch eine besonders schwer zu behandelnde Untergruppe innerhalb der Perversionen – und vom Transvestitismus oftmals gar nicht zu unterscheiden – sind „die Transsexuellen“ in Deutschland, unter anderem mit einem eigens für sie geschaffenen Gesetz, zur sozialen Minderheit der „transsexuellen Menschen“ avanciert, mit allen hiermit verbundenen Privilegien. Zu diesen Privilegien gehört nicht zuletzt der Schutz vor „Psychopathologisierung“. In modernen Gesellschaften ist es nicht mehr möglich, eine ganze soziale Gruppe mit einer psychopathologichen Diagnose zu versehen.“ (S. 951)
Und diese Entwicklung macht nicht bei den transsexuellen Menschen halt, sondern geht mit ungebremster Wucht weiter:
„Und nach den Transsexuellen – die Exhibitionisten, die Pädophilen, die Sadomasochisten? Alle diese und noch viele andere sexuelle Selbst-Präsentationen sind auf dem Weg, sich in der einen anderen Form als soziale Identitäten zu präsentieren (vgl. Sigusch, 1992, S. 105 ff.). Dabei wird gender von der Metapher zur Parole: im Kampf um die Anerkennung eines Anderssein – mit allen Lügen und Selbstlügen, die in die Selbstilisierung solcher „Betroffenengruppen“ als „sexuelle Minderheiten“ eingehen. Bedeutet die willfährige Anerkennung all dieser „früheren“ Perversionen als Lebensform nicht die Preisgabe eines Entwicklungsziels der Psychoanalyse, nämlich der Unterscheidung von primitiven und reifen, kranken und gesunden sexuellen Formen?“ (S. 952)
Wir lesen von „minor attracted persons“ und von Zoophilen, die „liebevolle Beziehungen“ zu Tieren führen, angeblich im gegenseitigen Einvernehmen. Mit den Worten von Reiche werden hier dem „nackten Kaiser Perversion neue Kleider“ verpasst (Fußnote 16, S. 945). Dem ist aus meiner Sicht nichts hinzuzufügen.
Wie es weitergeht
Auch zur weiteren Entwicklung teilt Reiche uns seine Auffassung mit – eine Auffassung, die ich zutreffend finde und die man wiederum auch jetzt bereits beobachten kann:
„Jeder reine Konstruktivismus tendiert gemäß seiner eigenen Aufbaulogik zur Selbstzerstörung. Da er weder einen physischen („dies ist mein Körper“) noch einen metaphysischen („dies setze ich voraus“) Referenzpunkte anerkennen darf, kann er nur triviale oder Pseudoschlüsse produzieren.“ (S. 948)
„Gender möchte sich selbst als stets neu, als unendlich vielfältig, als nicht auf „2“ (~ Mann und Frau) beschränkt, zur Darstellung bringen. Ich nehme an, daß eine mit objektiv hermeneutischen Mitteln durchgeführte semantische Analyse diesen Befund erbringen würde. Eine im gender-Diskurs immer wiederkehrende suggestive Formulierung lautet many genders, […]. Hier wird noch einmal sichtbar, wie sehr gender zur Verankerung mit dem klinisch-psychoanaltisch-soziologisch-sozialpsychologischen Mutterschiff gelöst hat und in eine eigene Umlaufbahn eingetreten ist.“ (S. 954)
Wir kennen sie alle, die wahlweise 72 oder 8 Milliarden Gender. Die “greysexuellen transmasc demiboys” und die vielfältigen anderen Gender, die alle ihre „Identität“ und Flagge haben, ihre eigenen, mit sich selbst häufig logisch im Konflikt stehenden Selbstbeschreibungen, und ihre eigenen Pronomen.
„Gender wird zur Metapher der Identität; das alte sexuelle an der Identität wird getilgt – und mit ihm der an die Sexualität gebundene Konflikt. Jedenfalls könnte das die Intention sein: All das, was früher an sexuelle Zustände oder Konflikte – und also auch an Diagnosen und andere Ojektivierungen – gebunden war, soll verschwinden.“ (S. 954)
Der Artikel hat auch viel zur Homosexualität als Triebschicksal oder auch zur Entwicklung feministischer Strömungen, insbesondere zur Rolle von Judith Butler in diesem Kontext, zu sagen. Ich könnte hier noch seitenweise weitere Passagen zitieren, empfehle stattdessen einfach das Lesen des Artikel selbst.
Zum Ende des Artikel findet sich folgende Zusammenfassung:
„Die Absicht von Stoller, von Money und von denen, die ihnen folgten, war gewesen, Ordnung in das unübersichtliche Feld der Geschlechtsidentität und in das Feld dessen zu bringen, was in den Drei Abhandlungen Abweichung vom Sexualziel (~ Perversionen) und vom Sexualobjekt (~ Homosexualität) genannt worden war. Ein kurzer Blick auf die Folgen belehrte uns: Es wurde nicht Ordnung geschaffen, sondern eine alte Ordnung mit all ihrer internen Unordnung durch eine neue Ordnung ersetzt, die alsbald noch viel mehr interne Unordnung generierte. Mit unverhohlenem Haß blickt Money am Ende seines Forscherlebens auf das, was die Konstruktivisten aus seinem Kind, dem gender, gemacht haben (1994, S. 25). Butler schließlich und die, die ihr folgen, wollten eine alte Ordnung durch eine neue Unordnung erschüttern: gender troubles. Auch das ist ihnen nicht geglückt. Butler konstruiert das Hetero als so zwingend, daß sie, interessierte sie sich für diese Frage als einer empirischen, zu dem Schluß kommen müßte: Die Ordnung der Geschlechter ist so festgefügt wie eh und je. Money, Stoller und der konstruktivistische gender-Diskurs haben zusammen etwas ganz anderes erreicht: nämlich die Verdrängung des sexuellen Konflikts aus dem Diskurs über die Geschlechtsidentität.“ (S. 955)
„Der Sieg von gender über sex ist ein Zeitzeichen. In ihm verdichten sich drei Wünsche. Der erste Wunsch: der Zersetzung der starren, konventionellen Geschlechtsrollen-Stereotype mögen „reale“ geschichtliche Tendenzen zur Auflösung der Geschlechtsgrenzen entsprechen; der zweite Wunsch: dem sexuellen Konflikt dadurch zu entgehen, daß man ihn für gelöst erklärt und sein Substrat als „meine Identität“ behauptet; der dritte Wunsch: die neuen Begriffe, die sich aus dem Zwang ergeben, universelle Probleme immer wieder neu zu formulieren, mögen auf ein noch die dagewesenes Neues verweisen. In allen Wünschen ist auch eine Wahrheit enthalten. In welcher relativen Stärke sie mit Illusion und Manipulation vermischt ist?“ (S. 955f)
Ich sehe sehr starke Anteile sowohl von Illusion als auch Manipulation - beide sollen letztlich auch per Gesetz festgeschrieben und verordnet werden. Und sehr offensichtlich sollen hier auch Verhaltensweisen normalisiert werden, die in meinen Augen zurecht als Störung angesehen werden können und das auch sollten. Wie ich auf Twitter bereits schrieb: “Es ist alles ganz schlimm. Wir müssen etwas dagegen tun.”
Sehr interessant, solche Recherchen sind sehr wichtig, sie führen uns zum Kern des Problems.
Aber verstehe ich das richtig, dass Reimut Reiche dem Begriff Gender, so wie ihn Money und Stoller verwenden, noch eine gewisse Brauchbarkeit, eine "kritische Stoßrichtung" sogar, attestiert, weil er sich im Denken dieser beiden noch nicht von Sexus gelöst hat? Dass sich in seinen Augen das Problem erst dann so richtig manifestiert, als sich gender aus der „Verankerung mit dem klinisch-psychoanaltisch-soziologisch-sozialpsychologischen Mutterschiff gelöst hat und in eine eigene Umlaufbahn eingetreten ist“?
Ich würde sagen: Wenn sich ein Begriff so einfach und so flächendeckend von seinem „Mutterschiff“ lösen lässt und dann so viel Schaden anrichten kann, dann war er halt sehr schlecht mit dem „Mutterschiff“ verankert, dann liegt da irgendwo ein grundsätzlicher Fehler vor, der sich im Laufe der Begriffsgeschichte eben herauskristallisiert und manifestiert.
Ebenso irritiert mich der Gebrauch des Begriffs Identität/Identifikation schon im Zusammenhang mit diesen Sexualwissenschaftlern.
Ich sage zum Beispiel: Ich habe einen weiblichen Körper und weiß daher, dass ich eine Frau bin. Das hat meiner Meinung nach mit „Identifikation“ überhaupt nichts zu tun.
Müsste ich von mir sagen: „Ich habe einen weiblichen Körper, aber ich identifiziere mich als Mann“, so ist dieser Begriff, also Identifikation, auch hier die falsche Wahl. Die Wahrheit wäre nämlich die, dass ich unter der Realität, also meinem Frausein, leiden würde und mir einen Fluchtweg suchen würde, der mir mein Leid erleichtern würde. Ich will zwanghaft von etwas weg. Ich ergreife die männliche „Identität“ dann nicht in Freiheit, die Basis wäre und bliebe doch das Leiden und der illusionäre Wunsch, der Realität zu entfliehen.
Wenn ich aber sage, ich identifiziere mich mit diesen oder jenen philosophischen Denkern und mit anderen weniger oder gar nicht, dann macht der Begriff für mich Sinn, wegen der Möglichkeit der freien Wahl.
Lohnenswert fände ich es außerdem, die Tatsache in Rechnung zu stellen, dass einige dieser Sexualwissenschaftler Kindheitstraumata mit sich herumgetragen haben, die sie selbst von ihrem Geschlecht entfremdet haben (was die Berufswahl motiviert haben dürfte). Bei John Money und Wilhelm Reich z. B. sind sie schwerwiegend und sichern ihnen mein ganzes Mitgefühl.
Interessant im Zusammenhang mit John Money: dieses Video
https://www.youtube.com/watch?v=Id1Mby-8Pao
Traumata dieser Größenordnung prägen natürlich die Existenz und das Denken; sie überschatten das Leben, sind aber leider kein Königsweg zur Wahrheit. Schmerzen können auch gewaltig in die Irre führen. Man konstruiert sich ein Denken zusammen, dass schmerzlindernd und „befreiend“ wirken soll – und könnte gerade dadurch ganz gewaltig auf den Holzweg geraten.
Ich muss es mal selbst genauer untersuchen, mich überwinden und diese Leute im Original lesen, aber mein Anfangsverdacht ist ganz klar der, dass bereits die genannten Sexualwissenschaftler gewaltig auf dem Holzweg waren.
Bei der Analyse dieser Holzwege in der feministischen Tradition macht es übrigens wenig Sinn, sich pausenlos auf Judith Butler einzuschießen. Das ist alles andere als eine originelle Denkerin; sie käut wieder und überspitzt und überdehnt, was sie vorfindet.